Satz über Not und Beugung

Für behauptete Schäuble-Äußerung fehlt jeder Beleg

21.12.2023, 14:42 (CET), letztes Update: 21.12.2023, 17:08 (CET)

Ein paar Wörter austauschen, einen Halbsatz ergänzen - und schon verändert sich die Aussage eines Zitats. Zum Beispiel bei einem mehr als zehn Jahre alten Satz von Ex-Finanzminister Wolfgang Schäuble.

Der ehemalige Bundesminister und Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) wird in den sozialen Netzwerken mit einer angeblichen Aussage zitiert, die sinistre Absichten offenbaren soll: «Die Not, welche wir vorsätzlich herbeiführen werden, wird die Menschen zwingen, sich zu beugen.» Verrät Schäuble hier etwas über sein Verständnis von Politik und vom Durchsetzen unpopulärer Maßnahmen?

Bewertung

Es gibt keinen Beleg, dass Schäuble sich je so geäußert hat. Es existiert lediglich ein ähnlicher Satz von ihm aus der Zeit der europäischen Finanz- und Schuldenkrise, der aber so umformuliert wurde, dass sich der Sinn verändert hat.

Fakten

Eine Suche nach dem Zitat führt zu keinen glaubwürdigen Quellen wie etwa Redeprotokollen oder Mitschnitten, wohl aber zu einem Video, in dem sich der Satz in einem Untertitel findet. Wörtlich sagt Schäuble in dem Video: «Weil, wenn die Krise größer wird, werden die Fähigkeiten, Veränderungen durchzusetzen, größer.»

Der Untertitel des Videos gibt diesen Satz nicht korrekt wieder, sondern formuliert ihn deutlich um: «Oder anders gesagt: "Die Not wird die Menschen zwingen, sich zu beugen!"» In einem weiteren Schritt ist diese vermeintliche Aussage offenbar um den Relativsatz «welche wir vorsätzlich herbeiführen werden» ergänzt worden. Insbesondere dieser Einschub verfälscht Schäubles Aussage grundlegend. Von einer vorsätzlich herbeigeführten Not oder Krise spricht er in dem Video nicht.

Was ist der Kontext des kurzen Videos? Es stammt von einer älteren Podiumsdiskussion zwischen dem damaligen Bundesfinanzminister Schäuble und dem mittlerweile gestorbenen ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt über die Währungs- und Finanzstabilität in Europa. Der Sender Phoenix zeigte die Veranstaltung am 28. August 2011, also in der Hochphase der europäischen Finanz- und Schuldenkrise.

Konkret ging es um die Regulierung der angeschlagenen Finanzmärkte. Schäuble sagt, dass diese notwendig sei und eine Lösung auf europäischer Ebene gefunden werden müsse.

Man sei dabei etwas aufzubauen, es sei mühsam, aber nicht hoffnungslos. Er sei deshalb trotz Krisenstimmung entspannt. Gefragt nach dem Grund, antwortet er: "Weil, wenn die Krise größer wird, werden die Fähigkeiten, Veränderungen durchzusetzen, größer."

Das veränderte Zitat von Schäuble kursiert seit mehreren Jahren. Dass der Politiker diesen Satz möglicherweise bei einer anderen Gelegenheit gesagt hat, ist nicht belegt. Von Schäubles Büro erhielt die Deutsche Presse-Agentur im Jahr 2020 auf Anfrage keine Einschätzung zu dem Satz.

(Stand: 21.12.2023)

Links

Bearbeitetes Video mit vermeintlichem Zitat (archiviert; Video archiviert)

Längerer, unbearbeiteter Mitschnitt (archiviert; Video archiviert)

Programminfo von Phoenix (archiviert)

Hintergrund zur Schuldenkrise (archiviert)

Beitrag auf Facebook (archiviert)

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