Keine Warnung vor WEF-Ausweis

Von der Leyen sprach beim G20-Gipfel über digitalen Wandel

25.09.2023, 12:26 (CEST)

Wer nicht mitmacht, fliegt raus? Im Netz heißt es, die EU-Kommissionspräsidentin habe Bürger ohne digitalen Ausweis vor Konsequenzen gewarnt. Doch darum ging es in ihrer Rede überhaupt nicht.

Der Widerstand gegen eine voranschreitende Digitalisierung in der Gesellschaft wird teils auch über Desinformation aufrecht erhalten. So soll EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen jüngst gewarnt haben: Wer eine digitale Identität vom Weltwirtschaftsforum (WEF) ablehne, werde aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Diese Behauptung verbreiten zumindest mehrere Blogbeiträge (etwa hier und hier). Nutzer von sozialen Netzwerken teilen Links und Screenshots solcher Artikel und reagieren teils empört. Hat Von der Leyen das wirklich gesagt?

Bewertung

Nein, Ursula von der Leyen hat sich nicht so geäußert. Die Falschmeldung geht auf den Beitrag einer US-Webseite zurück, die für die Verbreitung von Falschinformationen bekannt ist. Auf dem G20-Gipfel sprach die EU-Kommissionspräsidentin über die Chancen und Risiken des digitalen Wandels, von einem angeblichen WEF-Ausweis war überhaupt keine Rede.

Fakten

Ursprung dieser Behauptung ist offenbar ein Beitrag von «The People's Voice». Diese US-Webseite hieß vor der Umbenennung «Newspunch» und ist für die Verbreitung von Desinformation bekannt. Die Deutsche Presse-Agentur (dpa) hat bereits mehrfach von der Webseite verbreitete Falschinformationen in Faktenchecks widerlegt. Oft behandelten die erfundenen Behauptungen das Weltwirtschaftsforum (WEF) und dessen Gründer Klaus Schwab.

Im Titel und der Einleitung des «The People's Voice»-Artikels ist von einer Ausgrenzung aus der Gesellschaft und einem vermeintlichen WEF-Ausweis die Rede. Der Artikel stützt sich auf angebliche Aussagen, die von der Leyen während einer Sitzung mit dem Titel «One Future» auf dem G20-Gipfels in Indien Anfang September 2023 gemacht haben soll. Dem Artikel zufolge soll die EU-Politikerin dort gesagt haben, dass «unsere kollektive Zukunft digital sei und von globalistischen Organisationen wie dem WEF gesteuert werde».

EU-Politikerin sprach über Möglichkeiten des digitalen Wandels

Tatsächlich hat die Kommissionspräsidentin in einem Beitrag auf der Plattform X (vormals Twitter) im Zusammenhang mit dem G20-Gipfel erklärt: «Die Zukunft ist digital.» Die angeblichen WEF-Ausweise oder eine Ausgrenzung aus der Gesellschaft werden jedoch nicht erwähnt.

Wie aus einer Mitteilung hervorgeht, thematisierte die EU auf dem G20-Gipfel in Neu-Dehli Visionen für den digitalen Wandel. Auf der Sitzung zum Thema «One Future» sprach die Kommissionspräsidentin über die Möglichkeiten und Gefahren künstlicher Intelligenz sowie über digitale öffentliche Infrastruktur. Als Beispiel führte sie etwa das digitale EU-Covid-Zertifikat an.

Von einer Ausgrenzung oder Konsequenzen für Bürger, die nicht an dieser digitalen Infrastruktur teilnähmen, sprach sie nicht. Das belegt die von der EU veröffentlichte Rede im Wortlaut. Die Blogbeiträge verbreiten also falsche Informationen.

Mit dem Thema «Digitale Identität» beschäftigt sich auch das Weltwirtschaftsforum. So hat die Organisation im Juni 2023 einen Bericht veröffentlicht, in dem es um neue Ideen und eine Übersicht zur Ausweisfunktion im digitalen Zeitalter geht, nicht aber um die Einführung eigener digitaler WEF-Ausweise. Zwar gab es tatsächlich zwischen 2018 und 2022 ein Pilotprojekt für papierlosen Reiseverkehr unter Zusammenarbeit von Kanada, den Niederlanden und dem WEF. Das Projekt wurde Medienberichten zufolge auf unbestimmte Zeit ausgesetzt.

EU-Digitalbrieftasche EUDI: Kritik von Datenschützern

Vielmehr ist der Anstoß der aktuellen Empörung aber offenbar ein Vorhaben der EU, wie auch der «The People's Voice»-Artikels nahelegt: In dem Blogbeitrag wird nämlich auf einen weiteren Artikel verlinkt, der Kritik von Datenschützern behandelt. In einem offenen Brief vom Juni 2023 forderten mehrere Datenschützer die EU auf, die Einführung von sogenannten EU Digital Identity Wallets (EUDI-Wallets) zu überdenken. Sie sehen die Privatsphäre europäischer Bürger gefährdet.

Hintergrund sind im Juli 2023 gestartete Pilotprojekte und Tests, deren Ziel es ist, die digitalen Ausweisfunktionen weiterzuentwickeln und EU-weit zu standardisieren. Manche Datenschützer befürchten unter anderem, dass eine EU-ID-Lösung dazu beitragen könne, die Menschen im Netz über verschiedene Dienste hinweg mit unerwünschter Werbung zu verfolgen.

Auch die dpa berichtete über das Projekt und hat sich in einem Artikel mit den wichtigsten Fragen und Antworten zu EUDI-Wallet beschäftigt.

(Stand: 25.9.2023)

Links

Über «The People's Voice» bzw. «Newspunch» (archiviert)

Über G20-Gipfel in Indien (archiviert)

Von der Leyens Beitrag auf X (archiviert)

EU-Rat zum G20-Gipfel (archiviert)

Von der Leyens Erklärung auf «One Future»-Sitzung (archiviert)

WEF zum Thema «Digitale Identität» (archiviert)

WEF-Bericht vom Juni 2023 (archiviert)

Bericht über Projektstopp in Kanada (archiviert)

Artikel mit Datenschützer-Kritik (archiviert)

Offener Brief (archiviert)

dpa-Bericht über Start von EUDI-Tests vom 10.7.2023 (archiviert)

dpa-Bericht über EUDI-Wallet vom Juli 2023 (archiviert)

dpa-Faktencheck zu Behauptung über WEF

dpa-Faktencheck zu Behauptung über KI-Bibel

«The People's Voice»-Art (archiviert)

Blogartikel 1 mit Falschbehauptung (archiviert)

Blogartikel 2 mit Falschbehauptung (archiviert)

Facebook-Post mit Falschbehauptung (archiviert, Sharepic archiviert)

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