Internationale Zusammenarbeit

Russland ist weiter Mitglied der WHO und WTO

07.09.2023, 12:53 (CEST)

Hat sich Russland aus der Weltgesundheits- und der Welthandelsorganisation zurückgezogen? Nein. Das dementiert auch die Botschaft in Berlin. Doch im Netz verbreiten dazu User irreführende Beiträge.

Mit dem Angriff auf die Ukraine hat Russland das Vertrauen für internationale Zusammenarbeit bei vielen Ländern erschüttert. Und nun soll die Russische Föderation angeblich noch einen «Prozess zum Rückzug» aus der Welthandelsorganisation (WTO) und Weltgesundheitsorganisation (WHO) gestartet haben. Das wird zumindest in einem Blogbeitrag behauptet, den User in sozialen Netzwerken aktuell verbreiten. Was hat es damit auf sich?

Bewertung

Hier fehlt der wichtige Kontext: Es gibt in Russland tatsächlich Diskussionen über einen Austritt aus verschiedenen internationalen Vereinbarungen und Organisationen wie der WHO und WTO. Eine konkrete Entscheidung dazu gibt es bisher aber nicht. Die WHO erklärt gegenüber der Deutschen Presse-Agentur, seitens Russland sei kein Austrittsersuchen eingegangen. Die russische Botschaft dementiert ebenso, dass ein Austritt bei den Organisationen beantragt wurde.

Fakten

Der Blogbeitrag stützt sich auf einer Aussage des stellvertretenden Vorsitzenden des Unterhauses des russischen Parlaments - der Duma - Pjotr Tolstoi. Er habe erklärt, Russland arbeite daran, die «internationalen Verpflichtungen zu revidieren (...), die heute keinen Nutzen bringen, sondern unserem Land direkt schaden». Das russische Außenministerium habe demnach eine Liste von Abkommen zur Prüfung an die Duma geschickt. «Der nächste Schritt ist der Austritt aus der WTO und der WHO, die alle Verpflichtungen gegenüber unserem Land vernachlässigt haben», wird Tolstoi zitiert.

Die Aussagen stammen tatsächlich von dem russischen Politiker - sie sind in einer Plenarsitzung bereits im Mai 2022 gefallen. Das geht aus einem Artikel der Parlamentszeitung «Parliamentskaya Gazeta» hervor. Demnach prüft die Duma zusammen mit dem Föderationsrat tatsächlich Möglichkeiten zum Austritt aus internationalen Vereinbarungen.

Russische Botschaft dementiert Austritt

Bisher lassen sich jedoch keine Hinweise auf einen konkreten Beschluss oder tatsächlichen Rückzug aus der WTO und der WHO seitens Russland finden. Die russische Botschaft in Deutschland teilte der Deutschen Presse-Agentur (dpa) mit, die Behauptungen im Netz seien «unserer Ansicht nach falsch».

Auch eine WHO-Sprecherin bestätigte der dpa am 31. August 2023 per E-Mail, dass die Organisation keine offizielle Mitteilung oder ein Austrittsersuchen Russlands erhalten habe. Sowohl auf der WHO- als auch auf der WTO-Webseite wird die Russische Föderation unverändert als Mitglied geführt. Die WTO hat auf eine dpa-Anfrage bisher jedoch nicht reagiert.

Austrittsüberlegungen als Reaktion auf westliche Sanktionen

Hintergrund der Prüfung internationaler Vereinbarungen sind offenbar die Sanktionen vieler, vor allem westlicher WHO- und WTO-Mitgliedsländer nach der russischen Invasion in der Ukraine. Die Europäische Union hat am 15. März 2022 ein viertes Sanktionspaket verabschiedet. Dort wurde unter anderem vereinbart, gemeinsam mit anderen WTO-Mitgliedern Russland den «Meistbegünstigungsstatus» (MFN) auf den EU-Märkten zu verweigern.

Dieses Prinzip ist ein Grundsatz, der für die Mitgliedsländer der WTO gilt und es ihnen durch die Anwendung eines Systems der gegenseitigen Gleichbehandlung ermöglicht, von den besten wirtschaftlichen Bedingungen zu profitieren. Mit dem Ende des Status hat Russland also bestimmte Vorteile der WTO-Mitgliedschaft verloren.

Als Reaktion darauf legte die Partei Gerechtes Russland am 21. März 2022 der Duma einen Gesetzesentwurf vor, der den Austritt aus der WTO vorschlägt. Das berichtete die russische Pressegruppe RBC. Pjotr Tolstoi (Partei Einiges Russland) forderte wenige Tage später der staatlichen russischen Nachrichtenagentur TASS zufolge auch einen Rückzug aus der WHO.

Vor der Plenarsitzung Mitte Mai 2022 griffen auch andere Politiker das Thema auf und forderten Informationen von ihrer Regierung über die Vor- und Nachteile bei einer fortgeführten Mitgliedschaft in den Organisationen.

Rückzug aus der WTO und WHO ist in Russland umstritten

Trotz der Forderungen einiger Duma-Politiker ist ein Austritt aus der Welthandelsorganisation aber in Russland umstritten: Der Vizeaußenminister Alexander Pankin erklärte bereits am 16. Juni 2022 im Rahmen des Internationalen Wirtschaftsforums in St. Petersburg, dass ein WTO-Austritt nicht in Betracht gezogen werde. Laut Pankin ist Russland der WTO beigetreten, um von den Vorteilen zu profitieren und beabsichtigt nicht auszutreten.

Auch das russische Außenministerium sowie Wirtschaftsminister Maxim Reschetnikow bekräftigten zuletzt den Verbleib Russlands in der WTO. Ein Austritt würde Russland von allen bestehenden Mechanismen innerhalb der WTO ausschließen, sagte der Minister einem TASS-Bericht zufolge.

Ebenso gibt es mit Blick auf einen möglichen WHO-Rückzug kritische Stimmen in Russland. Laut einem Online-Artikel vom Juli 2023 sprachen sich zuletzt etwa Gesundheitsexperten sowie der stellvertretende Vorsitzende des Duma-Ausschusses für Gesundheitsschutz, Alexey Kurinny, für einen Verbleib Russlands in der Weltgesundheitsorganisation aus.

Die WHO-Mitglieder haben die russische Invasion in der Ukraine «auf das schärfste» verurteilt und Moskau aufgefordert, «sofort alle Angriffe auf Krankenhäuser und andere Gesundheitseinrichtungen» in der Ukraine zu stoppen.

Auf vorherige Initiative einiger Staaten hat die WHO zudem im Mai 2023 das Europäische Büro der WHO für die Prävention und Bekämpfung nicht übertragbarer Krankheiten in Moskau geschlossen und in die dänische Hauptstadt Kopenhagen verlegt. Um konkrete Sanktionen handelt es sich dabei aber nicht.

Schon 2022 gab es Falschbehauptungen zu Russlands WHO-Mitgliedschaft

Es existieren also keine Hinweise darauf, dass Russland den Austrittprozess bei den Organisationen formal eingeleitet hat. Russland ist bisher noch Mitglied - wenngleich es innerhalb des Landes Diskussionen über einem Rückzug aus WTO und WHO gibt.

Derweil ist es nicht das erste Mal, dass Falschinformationen im Netz um die WHO-Mitgliedschaft Russlands kursieren. Ende Juli 2022 hatten etwa die Nachrichtenagenturen Reuters und Associated Press (AP) sich mit falschen Behauptungen beschäftigt, laut denen Russland angeblich die WHO-Büros im Land geschlossen hätte. Doch ein WHO-Sprecher dementierte und bestätige: Die WHO operiert weiter in Russland.

(Stand: 5.9.2023)

Links

Über Pjotr Tolstoi (archiviert)

Bericht in Parlamentszeitung vom 17. Mai 2022 (archiviert)

WHO über Russland (archiviert)

WTO über Russland (archiviert)

Über das vierte EU-Sanktionspaket (archiviert)

WTO über «Meistbegünstigungsstatus» (archiviert)

RBC zu Gesetzesentwurf (archiviert)

TASS zu Tolstoi-Forderung (archiviert)

Parlamentszeitung zu Politiker-Forderungen (archiviert)

Interfax zu Pankin-Äußerung (archiviert)

Ria Nowosti zu Statement Außenministerium (archiviert)

TASS zu Aussage von Reschetnikow (archiviert)

Online-Artikel vom 25. Juli 2023 (archiviert)

Über WHO-Position zur russischen Invasion (archiviert)

Initative der EU-Mitgliedsländer in der WHO (archiviert)

WHO zur Büro-Verlegung (archiviert)

Französischer Bericht zu WHO-Position (archiviert)

Reuters-Faktencheck (archiviert)

AP-Faktencheck (archiviert)

Facebook-Post (archiviert)

archivierter Blogbeitrag

Über dpa-Faktenchecks

Dieser Faktencheck wurde im Rahmen des Facebook/Meta-Programms für unabhängige Faktenprüfung erstellt. Ausführliche Informationen zu diesem Programm finden Sie hier.

Erläuterungen von Facebook/Meta zum Umgang mit Konten, die Falschinformationen verbreiten, finden Sie hier.

Wenn Sie inhaltliche Einwände oder Anmerkungen haben, schicken Sie diese bitte mit einem Link zu dem betroffenen Facebook-Post an faktencheck@dpa.com. Nutzen Sie hierfür bitte die entsprechenden Vorlagen. Hinweise zu Einsprüchen finden Sie hier.

Schon gewusst?

Wenn Sie Zweifel an einer Nachricht, einer Behauptung, einem Bild oder einem Video haben, können Sie den dpa-Faktencheck auch per WhatsApp kontaktieren. Weitere Informationen dazu finden Sie hier.