Keine Studie mit Gegenbeleg

Auch bei Amischen gab es Übersterblichkeit während Corona

23.08.2023, 13:00 (CEST)

Amisch-Gemeinden in den USA leben abgesondert von der Gesellschaft. Doch auch bei ihnen starben während der Pandemie mehr Menschen. Eine Studie, die das Gegenteil zeigen sollte, existiert nicht.

Die Beschränkungen während der Corona-Pandemie haben weltweit unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen. Eine Gruppe, die sich Empfehlungen wie dem Tragen von Masken und der Impfung weitgehend widersetzte, waren die Amischen in den Vereinigten Staaten. Nun ist in den sozialen Netzwerken zu lesen, dass die Sterblichkeitsrate innerhalb der Religionsgemeinschaft trotzdem deutlich niedriger gewesen sei. Doch das stimmt so nicht.

Bewertung

Belege für eine angeblich niedrigere Sterberate unter Amischen gibt es nicht. Zum Höhepunkt der Pandemie wurde im Gegenteil ein Anstieg der Sterbefallzahlen auch bei ihnen beobachtet. Die Behauptung geht auf eine Hochrechnung eines Einzelnen in einem Vortrag zurück.

Fakten

Deutsche und englische Beiträge mit der Behauptung verweisen auf eine angebliche Studie, die eine 90-mal niedrigere Sterblichkeitsrate aufgrund von Covid-19 unter den Amischen gegenüber der restlichen Bevölkerung festgestellt haben soll. Diese Zahl ist allerdings nicht mit wissenschaftlichen Methoden entstanden. Eine entsprechende Studie ist nicht auffindbar.

Leben fast wie vor 300 Jahren: die «Amish People»

Die Glaubensgemeinschaft der Amischen entwickelte sich Ende des 17. Jahrhunderts in Europa. Hunderte ihrer Mitglieder wanderten bis Mitte des 19. Jahrhunderts nach Nordamerika aus. Der Großteil lebt in den US-Bundesstaaten Ohio und Pennsylvania, meist bäuerlich und einfach.

Die Amischen lehnen technischen Fortschritt wie das Stromnetz, Kraftfahrzeuge oder Fernsehen ab. Die verschiedenen Gemeinden haben dahingehend aber unterschiedlich strenge Vorgaben. Auch der modernen Medizin stehen die Amischen weitgehend skeptisch gegenüber und setzen eher auf alternative Heilmethoden. In einigen Familien und Gemeinden werden außerdem Impfungen generell abgelehnt.

Angeblich soll die Amisch-Studie zu Covid-19 von der Vaccine Safety Research Foundation (VSRF) stammen, auf Deutsch etwa: Stiftung für Forschung zur Impfstoffsicherheit. Diese Organisation wurde 2021 gegründet und steht der Covid-19-Impfung ablehnend gegenüber. Eine Studie der Stiftung über die Amischen lässt sich jedoch nicht finden. Auf der Webseite der VSRF existiert nicht einmal ein allgemeiner Beitrag über die Amischen.

Ein Vortrag wird zur Studie gemacht

Es findet sich allerdings ein Vortrag des Stiftungsgründers Steve Kirsch bei einer Veranstaltung namens «Medical Freedom Panel» (Downloadlink). Die Vortragsrunde wurde von Doug Mastriano, republikanischer Senator im US-Bundesstaat Pennsylvania, veranstaltet und fand im Juni 2023 im Senatsgebäude in Harrisburg statt. Das Panel war kein offizielles politisches Gremium: Im Sitzungskalender des Gesundheitsausschusses oder des Ausschusses, dem Senator Mastriano vorsitzt, ist die Runde nicht zu finden. Der Redner Kirsch ist nach eigenen Angaben weder Arzt noch Wissenschaftler, sondern Tech-Unternehmer.

Der Stiftungsgründer führt in seinem Vortrag aus (ab 02:32:48), er sei im Lancaster County in Pennsylvania – wo die meisten Amischen leben – von Tür zu Tür gegangen. Da die Behauptung kursiere, es seien in der Gegend bis zu fünf Amische an Corona gestorben, habe er versucht, diese Personen auszumachen. Das sei ihm jedoch nicht gelungen.

Anhand dieser fünf angeblichen Todesfälle errechnet er dann selbst eine vermeintliche Sterberate: Ginge man davon aus, es habe diese fünf Fälle gegeben habe, so der Redner Kirsch (ab 02:34:13), würde das eine 90-mal niedrigere Sterblichkeitsrate als im Rest der USA bedeuten. Eine Studie erwähnt er nicht. Es handelt sich also lediglich um eine unbestätigte Hochrechnung einer Einzelperson, basierend auf einer hypothetischen Zahl.

Echte Studien beobachten auch bei Amischen Übersterblichkeit

Auch Mark Louden, Amisch-Experte und Professor für germanistische Linguistik an der Universität Wisconsin-Madison, stellte auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur (dpa) klar, dass die Behauptung jeglicher Grundlage entbehre. Genaue Zahlen seien auch kaum auszumachen, so Louden: «Statistiken über Infektionen, Krankenhausaufenthalte oder Todesfälle aufgrund von Covid-19 sowie Impfquoten enthalten keine Angaben zur Religionszugehörigkeit, so dass wir nur indirekte oder anekdotische Hinweise darauf haben, wie sich die Pandemie auf die Amischen auswirkte.»

Eine Studie, die 2021 im anerkannten «Journal of Religion and Health» erschien, lieferte solche Hinweise mit wissenschaftlichen Methoden: Da sich geschlossene Religionsgemeinschaften auch seltener auf Covid-19 testen ließen, wurden Todesanzeigen herangezogen, um die Sterblichkeit unter den Amischen während der Pandemie zu untersuchen. Dabei kam die Studie zu dem Ergebnis, dass diese sich ähnlich entwickelte wie in den USA insgesamt.

Zudem hätten sich viele amische Gemeinden zu Beginn der Pandemie sehr wohl an die Empfehlung der US-Seuchenschutzbehörde CDC gehalten, Kontakte zu reduzieren. Als die Beschränkungen im Sommer 2020 wieder gelockert wurden und sie ihre Gottesdienste wieder aufnahmen, sei in der Folge auch ein Anstieg an Todesfällen innerhalb der Religionsgemeinschaft beobachtet worden. Weil Gottesdienste mit vielen Menschen bei den Amischen eine hohe Bedeutung haben und in der Religionsgemeinschaft gleichzeitig Skepsis gegenüber dem Tragen von Masken herrsche, seien die Amischen besonders anfällig für eine Ansteckung gewesen.

Amische haben Impfung und Masken weitgehend, aber nicht komplett abgelehnt

Daraus lässt sich jedoch nicht ableiten, sie hätten grundsätzlich nie Masken getragen. So seien laut Experte Mark Louden im weiteren Verlauf der Pandemie die Amischen, die alle in ländlichen Gebieten leben, ebenso weniger bereit gewesen, Masken zu tragen und Abstand einzuhalten wie ihre nicht-amischen Nachbarn - es sei denn, es war explizit erforderlich: «In der Regel hielten sie sich aus dem traditionellen Antrieb, gute Bürger zu sein, an ausdrückliche Anordnungen des öffentlichen Gesundheitswesens.»

Eine Folgestudie, 2023 von denselben Wissenschaftlern im selben Journal veröffentlicht, ergab, dass die Übersterblichkeit in der Bevölkerung mit der Verfügbarkeit von Impfstoffen sank. Unter den Amischen blieb sie hingegen erhöht. Doch auch die Behauptung, keine einzige Person der Glaubensgemeinschaft habe sich impfen lassen, sei schlichtweg falsch, sagte Mark Louden der dpa.

Das zeigen beispielsweise Zahlen aus dem Holmes County in Ohio. Dort leben mehr als 38.000 Amische, die Gesamtbevölkerung im County zählt rund 44.000 Menschen. Die Impfquote lag dort zuletzt bei knapp 19 Prozent, das entspricht etwa 8.000 Einwohnern. Insofern müssen rein rechnerisch auch einiges Amische unter den Geimpften gewesen sein.

(Stand: 18.8.2023)

Links

Facebook-Post (archiviert)

Beitrag von «AUF1» (archiviert)

Artikel bei «Slay News» (archiviert)

Hintergrundinformationen eines mennonitischen Vereins zu den Amischen (archiviert)

Studie zur Gesundheitsversorgung bei den Amischen (archiviert)

Suche nach Studien zu Sterberate bei den Amischen (archiviert)

Suche nach «Amische» auf Webseite des VSRF (archiviert)

Video mit Vortrag, der Ursprung der Behauptung ist (Downloadlink, archiviert)

Informationen zu Vortragsveranstaltung eines Senators in Pennsylvanias (archiviert)

Amische in den verschiedenen US-Bundesstaaten (archiviert)

Sitzungskalender des Gesundheitsausschussses im Senat von Pennsylvania (archiviert)

Sitzungskalender des Ausschusses für Veteranenangelegenheiten und Notfallvorbereitungen im Senat von Pennsylvania (archiviert)

Informationen über Vortragsredner Steve Kirsch (archiviert)

Informationen über Amisch-Experte Mark Louden von der Universität Wisconsin-Madison (archiviert)

Studie von 2021 zur Übersterblichkeit bei den Amischen (archiviert)

Studie von 2023 zur Übersterblichkeit bei den Amischen (archiviert)

Gesamtbevölerung im Holmes County, Ohio (archiviert)

Impfquote im Holmes County, Ohio (archiviert)

Über dpa-Faktenchecks

Dieser Faktencheck wurde im Rahmen des Facebook/Meta-Programms für unabhängige Faktenprüfung erstellt. Ausführliche Informationen zu diesem Programm finden Sie hier.

Erläuterungen von Facebook/Meta zum Umgang mit Konten, die Falschinformationen verbreiten, finden Sie hier.

Wenn Sie inhaltliche Einwände oder Anmerkungen haben, schicken Sie diese bitte mit einem Link zu dem betroffenen Facebook-Post an faktencheck@dpa.com. Nutzen Sie hierfür bitte die entsprechenden Vorlagen. Hinweise zu Einsprüchen finden Sie hier.

Schon gewusst?

Wenn Sie Zweifel an einer Nachricht, einer Behauptung, einem Bild oder einem Video haben, können Sie den dpa-Faktencheck auch per WhatsApp kontaktieren. Weitere Informationen dazu finden Sie hier.