Wahlen bleiben gültig

Gericht erklärte nur ein Wahlgesetz für verfassungswidrig

26.07.2023, 18:03 (CEST)

Das Wahlrecht wurde in der Vergangenheit immer wieder geändert - auch weil das Verfassungsgericht Änderungen beanstandete. Alte Wahlergebnisse konnte das aber nicht auflösen.

Das Bundesverfassungsgericht genießt in Deutschland höchstes Vertrauen der Bevölkerung. Doch nicht immer sind seine Urteile leicht zu verstehen: Derzeit kursiert ein Video in sozialen Medien, dass die Verkündung eines Urteils zeigt: «Alle Wahlen nichtig», heißt es in dem Videobeitrag, der mit «Bundesverfassungsgericht» überschrieben ist. Haben die höchsten Richter wirklich sämtliche Wahlen für nichtig erklärt?

Bewertung

Nein. Das Bundesverfassungsgericht hat im Jahr 2012 eine damals noch nicht angewandte Fassung des Bundeswahlgesetzes für nichtig erklärt. Auf die Gültigkeit früherer Wahlen hatte das keine Auswirkungen.

Fakten

Das Bundesverfassungsgericht hat am 25. Juli 2012 das im Vorjahr reformierte Bundeswahlgesetz für verfassungswidrig und damit für nichtig erklärt. Die Verkündung dieses Urteils durch den damaligen Gerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle zeigt das auf Facebook kursierende Video. Die Aufnahme der Liveübertragung des Senders phoenix ist also rund elf Jahre alt.

Die Entscheidung des Verfassungsgerichts hatte keine nachträglichen Auswirkungen auf frühere Wahlen oder frühere Wahlgesetze. «Verfahrensgegenstand waren allein die Regelungen in der Fassung von 2011», teilte ein Pressesprecher des Bundesverfassungsgerichts der Deutschen Presse-Agentur (dpa) mit.

Die 2011 beschlossene Wahlrechtsreform, die 2012 für verfassungswidrig erklärt wurde, war noch gar nicht bei einer Bundestagswahl zur Anwendung gekommen.

Bei der Prüfung des Wahlgesetzes vor dem Bundesverfassungsgericht ging es um Regelungen über die Mandatsverteilung im Deutschen Bundestag. Die Karlsruher Richter beanstandeten vor allem den paradoxen Effekt des «negativen Stimmgewichts». Diese ist eng mit Überhangmandaten verwoben. Solche fallen an, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate gewinnt, als ihr dort nach dem Zweitstimmenanteil zustünden.

Auch in den Jahren vor 2011 hatte das Verfassungsgerichts bereits über das Bundeswahlgesetz entschieden. Die einstige Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff, die an der Urteilsfindung mitwirkte, bestätigte im Jahr 2020 auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur (dpa), dass nur die jeweils gültigen Regelungen auf ihre Verfassungskonformität geprüft worden seien. Schon im ersten Urteil (von 2008) habe das Gericht ausdrücklich erklärt, dass damit die Wahl von 2005 nicht für ungültig erklärt werde, sagte Lübbe-Wolff.

Zudem werde über die Gültigkeit einer Wahl ausschließlich in einem Wahlprüfungsverfahren entschieden, fügte sie auf dpa-Anfrage hinzu. Auch in einem solchen Verfahren führe nicht jeder festgestellte Fehler zwangsläufig zur Ungültigkeit der Wahl.

Die Schwächen des Bundeswahlgesetzes waren lange nicht vollständig getilgt. Zuletzt trat im Juni 2023 die jüngste Fassung in Kraft. Für die Reform, die auf eine deutliche Verkleinerung des Bundestags abzielt, hatte der Bundestag auf Initiative der Parteien der Ampelkoalition das Bundeswahlgesetz geändert.

Die Reform soll ab der nächsten Bundestagswahl 2025 greifen und die Zahl der Abgeordneten von derzeit 736 auf 630 reduzieren. Zentral sind der Wegfall von Überhang- und Ausgleichsmandaten sowie der so genannten Grundmandatsklausel.

Unmittelbar mit dem Inkrafttreten der Wahlrechtsreform haben die bayerische Staatsregierung und die CSU nach eigenen Angaben Verfassungsklage am Bundesverfassungsgericht eingereicht. Auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion und die Partei Die Linke haben angekündigt, juristisch vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Reform vorzugehen. Ob sie bestehen bleibt, ist also derzeit noch unklar.

Grundsätzlich gilt für Urteile des Bundesverfassungsgerichts: Es ist kaum möglich, dass eine einzige Entscheidung viele längst getroffene Regelungen ungültig machen könnte. Erklärt das Gericht ein Gesetz für nichtig, wirkt das zwar tatsächlich auch in die Vergangenheit - und erzeugt rechtlich einen Zustand, als hätte es diese Rechtsnorm nie gegeben. Die Nichtigkeit eines Gesetzes führt aber nicht dazu, dass alle anderen auf seiner Grundlage erlassenen Entscheidungen ebenfalls ungültig würden. Sie bleiben wirksam, so regelt es das Bundesverfassungsgerichtsgesetz.

(Stand: 26.07.2023)

Links

Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Juli 2012 zum Wahlgesetz (archiviert)

Video der damaligen Urteilsverkündung, übertragen von phoenix (archiviert)

Der Spiegel zu negativem Stimmgewicht (archiviert)

Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Bundeswahlgesetz vom 3. Juli 2008 (archiviert)

dpa-Meldung über Klagen gegen die jüngste Wahlrechtsreform im Juni 2023 (archiviert)

Erläuterung zur Wirkung von Entscheidungen des Bundesverfassungsgericht (archiviert)

Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Paragraf 79, Absatz 2 (archiviert)

Video mit der Behauptung (archiviert, Video archiviert)

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