Besatzungsstatut ungültig

Gysi bezog sich auf NSA-Abhörskandal

12.04.2023, 16:46 (CEST)

Der Politiker Gregor Gysi ist für Scharfzüngigkeit und kritische Worte bekannt. Staatsleugner ist er deshalb aber noch lange nicht.

Deutschland ist seit Jahrzehnten ein souveräner Staat. Die Besatzungszeit und die besondere Situation durch die Teilung des Landes sorgen aber nach wie vor für Missverständnisse und Fehlinterpretationen. So kursiert im Internet beispielsweise ein altes Interview mit Gregor Gysi (Die Linke), in dem er das Besatzungsstatut als gültig bezeichnete. Was steckt dahinter?

Bewertung

Das Besatzungsstatut gilt nicht mehr. Gysi bezog sich in dem Gespräch angesichts der NSA-Affäre auf alte Vereinbarungen, die den alliierten Geheimdiensten besondere Befugnisse eingeräumt hatten, und forderte deren offizielle Aufhebung.

Fakten

Der Videoausschnitt, der unter anderem auf Facebook geteilt wird, ist Teil eines längeren Interviews aus dem Jahr 2013 anlässlich des Skandals um die US-amerikanische Nationale Sicherheitsbehörde (NSA). Nach den Enthüllungen des ehemaligen Geheimdienstmitarbeiters Edward Snowden war zum Zeitpunkt des Gesprächs gerade die Zusammenarbeit zwischen NSA und Bundesnachrichtendienst (BND) publik geworden.

Da der genaue Umfang der Überwachungsmaßnahmen seitens der USA noch unklar war, forderte Gysi in dem Interview sowohl vollständige Transparenz in der Angelegenheit als auch eine Klärung des Verhältnisses zwischen den Geheimdiensten der beiden Staaten. In diesem Zusammenhang fiel auch die Äußerung zum Besatzungsstatut.

Damit stellte Gysi jedoch nicht die Souveränität Deutschlands infrage, sondern spielte auf eine geschichtliche Besonderheit an.

Hintergründe zum Besatzungsstatut

Infolge der Kapitulation Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Land in vier Besatzungszonen geteilt. Die Leitlinien für die Verwaltung durch die westlichen Alliierten wurden 1949 im Besatzungsstatut festgelegt und beinhalteten unter anderem Entscheidungsbefugnisse über die Entmilitarisierung, internationale Angelegenheiten und Gesetzesänderungen.

Mit Inkrafttreten der Pariser Verträge im Jahr 1955 endete das Besatzungsstatut für die alte Bundesrepublik, die Alliierten behielten sich jedoch die Verantwortung für Berlin und Deutschland als Ganzes vor, solange das Land noch geteilt war. Mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag und der Wiedervereinigung erlangte Deutschland im März 1991 seine volle Souveränität zurück.

Diese Ereignisse bestreitet auch Gregor Gysi nicht: Auch aus seiner Sicht ist die Bundesrepublik Deutschland ein souveräner Staat, so ein Sprecher seines Büros gegenüber der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Gysi habe sich auf die damals aktuelle Forschungsarbeit eines Historikers zur Überwachungspraxis in den alten Bundesländern bezogen.

In dieser wurde herausgearbeitet, dass sich die Alliierten über Zusatzvereinbarungen nachrichtendienstliche Befugnisse gesichert hatten. Diese ermöglichten ihnen, das Post- und Fernmeldewesen in Deutschland auch über das Ende des Besatzungsstatuts hinaus zu überwachen. Da die Vereinbarungen keine Kündigungsklausel enthielten, war der Status dieser gesonderten Vorbehaltsrechte aus Sicht des Historikers unklar.

Aufkündigung überholter Abkommen

Dieser Sachverhalt erhielt angesichts des Abhörskandals nun neue Bedeutung, und Gysi forderte die Aufhebung eben jener Verträge. Das Besatzungsstatut erwähnte er nur deshalb, weil aus dessen Vorbehaltsrechten diese Vereinbarungen ursprünglich hervorgegangen waren.

Die offizielle Aufhebung erfolgte schließlich im August 2013 durch den Austausch entsprechender diplomatischer Noten mit den Botschaften der Vereinigten Staaten und Großbritanniens sowie Frankreichs, wie das Auswärtige Amt mitteilte.

Ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages (Downloadlink, S.11) stellte im Anschluss ausdrücklich fest, dass die geheimdienstliche Überwachung aus dem Ausland nicht aufgrund «Fortgeltung von Besatzungsrecht» kaum zu verhindern sei, sondern vielmehr, weil es keine völkerrechtlichen Abkommen gegen Spionage gäbe.

Dass Deutschland unter fremder Verwaltung stünde, ist vor allem in Reichsbürgerkreisen eine verbreitete Behauptung und stützt sich häufig auf Zitate von Politikern, die ohne den jeweiligen Kontext wiedergegeben werden.

(Stand: 6.4.2023)

Links

Archivierter Facebook-Post; archiviertes Video

Vollständiges Interview bei phoenix (archiviert)

Zur Zusammenarbeit zwischen NSA und BND (archiviert)

Besatzungsstatut der westlichen Alliierten (archiviert)

Übersicht zu den Pariser Verträgen (archiviert)

Zwei-plus-Vier-Vertrag (archiviert)

Auszug aus «Überwachtes Deutschland» (archiviert)

Pressemitteilung des Auswärtigen Amts vom 02.08.2013 (archiviert)

Pressemitteilung des Auswärtigen Amts vom 06.08.2013 (archiviert)

Rechtliche Grundlagen ausländischer Nachrichtendienste (Downloadlink) (archiviert)

dpa-Faktencheck zu Politiker-Aussagen

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